von Jannes Schälicke
Online- statt Präsenzunterricht an Hochschulen: Eine enorme Herausforderung. Wer das Semester nicht selbst erlebt, kann sich kaum vorstellen, wie das alles funktioniert.
Ein lautes Klingeln. Nicht analog, sondern elektronisch. Ein leichter Seufzer. Mit einem Fußtritt kickt er die Decke in Richtung hintere Bettkante. Erste Amtshandlung des Tages: Der Griff zum Smartphone. Schon so spät! Ab in die Küche, noch etwas essen und den Laptop starten. Mit einem sanften Surren fährt er hoch. Die Dioden fangen an zu leuchten. Ein letzter Bissen, dann hingesetzt. Einloggen. Nach und nach füllen sich die schwarzen Kacheln im virtuellen „Zoom-Raum“ mit lebendigen Gesichtern. Eine Kontroverse: Die Gruppe sitzt zusammen, und doch wieder nicht, denn jeder ist Zuhause. Das Seminar beginnt.
Diese Situation kennen fast alle aktuell Studierenden seit dem Beginn des Sommersemesters im April 2020. Die Corona-Krise bringt viele selbstverständliche Alltagsvorgänge des öffentlichen Lebens durcheinander. Während es für die meisten Dinge seitens der Regierung Lösungen gibt, müssen Unternehmen und Institutionen, zum Beispiel Universitäten, improvisieren.
Jeremias Schmunz ist 18 Jahre alt und studiert seit dem Wintersemester 2019 Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat den Unialltag schon im Präsenzmodus kennengelernt und studiert jetzt vor dem Bildschirm weiter. Auf die Frage, ob er sich Sorgen mache, nach dem Online- Semester eine Brille zu benötigen, antwortet er schmunzelnd: „Da sowohl mein Vater als auch meine Mutter eine Brille tragen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich später mal eine brauche, ohnehin schon ziemlich hoch. Eine zusätzliche Bildschirmzeit von ungefähr vier bis sechs Stunden am Tag durchs Studium macht das Ganze nicht besser.“
Dass Vorlesungen über Zoom vielleicht an einer kleinen, privaten Hochschule funktionieren, längst aber nicht so gut an einer großen Universität wie der Humboldt, zeigt seine Erfahrung: „Wenn es hochkommt, sind bis zu 200 Studierende in einem Zoom-Raum. Da fliegt im Sekundentakt einer raus. Optimal ist das nicht.“ Sich die Themen selbst zu erarbeiten, sieht er aber auch nicht als Alternative: „Wahrscheinlich würden viele nicht alle Aufgaben erledigen. Zur Rückkehr in Präsenz wären dann nicht alle auf dem gleichen Stand.“ Jeremias wirkt gelassen, als wolle er den Stier bei den Hörnern packen und dieses Semester so gut es geht durchziehen. Doch so geht es nicht allen Studierenden. Zu Beginn dieses Semesters wurde eine Petition von 20 Studierendenvertretungen und eine von mehr als 1400 Professoren aus ganz Deutschland unterzeichnet, dieses Semester als „Kann- Semester“ zu werten. Darin fordern sie die Aussetzung der
Regelstudienzeit, die freiwillige Nutzung von Lehrangeboten, die Verschiebung aller Fristen – also auch Prüfungen – und das Recht, diese wiederholen zu dürfen. Hintergrund ist die fehlende Chancengleichheit der Studierenden: Nicht jeder hat eine eigene Wohnung, in der man seine Ruhe hat. Es gibt Studierende, die aus finanziellen Gründen bei ihren Eltern wohnen. Wenn quengelnde Geschwister dazu kommen, im schlimmsten Falle in einer engen Wohnung, wird das Distance- Learning im Home-Office schnell zu einem Alptraum. In einiger Hinsicht hatte die Petition Erfolg: Die Regelstudienzeit und damit der Bafög-Anspruch wird verlängert, die Studierenden erhalten mehr Zeit.
Doch auch die Dozenten haben es nicht einfach. Sie müssen improvisieren und sich fragen, wie sie ihre Lehrinhalte online vermitteln können. Und langsam haben auch sie die Nase voll: Mitte Juni taten sich circa 2000 Dozenten verschiedener deutscher Universitäten zusammen und unterzeichneten einen offenen Brief. In diesem fordern sie, möglichst schnell wieder in den Präsenzunterricht zurückzukehren. Stand heute sind es sogar knapp 6000 Unterschriften. Mit sogenanntem „Hybridunterricht“ versuchen manche Hochschulen, wieder in die Präsenzlehre zurückzukehren. Der Gedanke ist, dass man den Studierenden, die vor Ort anwesend sein wollen, das ermöglicht. Wer nicht im Raum sein kann oder möchte, ist per Video zugeschaltet. Es steht also eine Kamera im Seminarraum, die das Geschehen live aufzeichnet.
Prof. Dr. Sebastian Köhler ist Dozent an der HMKW-Berlin. Er ist im Studiengang „Journalismus und Unternehmenskommunikation“ für Journalismus zuständig. Hybridunterricht findet er nicht gut: „Ich rate davon ab. Sagen wir, sieben sitzen im Raum und sieben sind zugeschaltet. Man muss ständig zwischen dem Video- und dem Präsenzkurs switchen. Die andere Gruppe wird dabei vernachlässigt. Am Ende geht das zulasten des Lernerfolges der Studierenden.“
Niemand ist für die aktuelle Situation verantwortlich. Hochschulen und Dozenten tun alles, damit der Stoff bestmöglich vermittelt wird. Doch sollte man darauf achten, es nicht zu übertreiben. Es darf nicht unnötig Druck auf die Studierenden ausgeübt werden. Zudem ist heute unbestritten, dass zu viel Bildschirmarbeit schädlich für die Augen ist. Vier bis sechs Stunden mehr an Bildschirmzeit pro Tag sind kontraproduktiv für die Gesundheit. Nicht nur aus diesem Grund bleibt zu hoffen, dass die Rückkehr zum Präsenzunterricht im Wintersemester 2020 möglich ist.