Gemeinsam einsam

von Valérie Schlott

Immer mehr Menschen leiden unter Einsamkeit. Nur wenigen ist bewusst, welche Auswirkungen das auf die Psyche haben kann. Depressionen kommen wegen der Kontaktbeschränkungen stärker ans Licht.

Sonnenstrahlen erreichen das sonst so dunkle Zimmer im dritten Stock und der Gedanke ist da, rauszugehen. Aber die Motivation fehlt. Tobias will sich aufraffen und das schöne Wetter genießen, bleibt die Frage: was tun? Denn er ist schon die ganzen letzten Wochen alleine ohne Freunde unterwegs. Vielleicht trifft er Bekannte auf der Straße.
Die Schuhe sind angezogen, er geht raus durch die Tür, ins Leben, der erste Schritt ist getan und mit Michael Jackson auf den Ohren läuft es sich gleich viel angenehmer. Die Idee, sich ein Eis zu gönnen, schießt ihm nur ganz kurz durch den Kopf. Er verzichtet, denn die ganze letzte Woche hat er nur Fast-Food gegessen – und das zeigt sich an seinem „Quarantäne- Bauch“, den er ungern in der Badesaison noch zur Schau stellen mag. Andere sitzen zu zweit am Fluss, Familien picknicken – und Tobias? Er geht alleine spazieren. Auf dem Weg ist ihm, wie so oft, keiner begegnet, den er kennt. Niemand mit dem er ein paar Worte wechseln kann. Tobias kommt zu Hause an und ist wieder allein. Und diesmal auch einsam.

Diese Situation ist keine Seltenheit. Immer mehr Menschen leiden unter der Einsamkeit, die die Corona Vorschriften ihnen abverlangt. Alten wie jungen Menschen fällt es schwer, ohne soziale Kontakte ihren Alltag zu leben und komplett auf sich gestellt zu sein. 

Das sogenannte Social Distancing verbietet es, wie gewohnt mit unseren Mitmenschen in Kontakt zu treten, dabei kann eine einfache Umarmung viel Wert sein. Sie kann Oxytocin, das Kuschelhormon, freisetzten, das beim Stressabbau hilft und zusätzlich unser Immunsystem stärken kann. Ist das nicht genau das, was wir aktuell am meisten brauchen, die Nähe? Wir sind als Menschen soziale Wesen. 

„Ellenbogen/ Kniebegrüßung sind kein Ersatz, mir gehen die Umarmungen ab“, so Dieter Klug, der vor zwei Jahren in den Ruhestand ging und aktuell die Treffen mit seinen Enkelkindern sehr vermisst. Auch Christoph, der im zweiten Semester Englisch und Psychologie auf Lehramt in Eichstätt studiert, vermisst besonders beim Schwimmtraining seine Freunde. „In der Gruppe zu trainieren ist eine ganz andere Erfahrung als allein. Du bist gemeinsam am struggeln, wirst von den anderen getriezt und man pusht sich gegenseitig um besser zu werden.“ Das gilt nicht nur für den privaten Bereich, auch für die Arbeit. Alleine im Homeoffice zu arbeiten, fällt einigen Menschen schwer. „Im Team findet man


schneller eine Lösung, ein Brainstorming mit mehreren Personen ist oft produktiver“, sagt Diplom Psychologin Dr. Angelika Sturny, die im Bereich Führungskräfteentwicklung und Talentmanagement in München arbeitet. Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht den Kontakt zu anderen. 

Studien zeigen, dass Kinder, die wenig bis gar keine körperliche Zuneigung erhalten, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, früher zu sterben. In der Einsamkeit neigen Menschen dazu, sich mit ihren eigenen Gedanken im Kreis zu drehen. Selbstreflexion mag für den einen die Gelegenheit sein, sich zu verändern. Für den anderen jedoch kann es bedeuten, in eine Depression abzugleiten. Mit der Folge, noch weniger Kontakt zu suchen, immer weniger für sich zu tun und noch depressiver zu werden – ein Teufelskreis, aus dem man schwer einen Ausweg findet. Die Seele ist eine Einheit mit dem Körper, was auf die Psyche geht, ist auch langfristig am Körper erkennbar. 

Das Coronavirus schadet vielen Menschen. Auch wenn es dem ein oder anderen banal erscheint, sind Konzerte, Festivals und Partys ein wichtiger Teil im Leben der Jüngeren, der ihnen aktuell genommen wird. „Viele denken, dass die ältere Generation von der Einsamkeit am meisten betroffen ist. Dabei sind es viel mehr die 15-25-Jährigen, die sich in ihrer Findungsphase befinden und den Kontakt zu Gleichgesinnten brauchen“, sagt die Psychologin. „Jugendliche sind auf der Suche nach sich selbst, sie wollen Dinge ausprobieren, neue Kontakte knüpfen und sich von ihrem Elternhaus lösen, was derzeit nicht möglich ist.“ Die meisten Jugendlichen halten sich an die derzeitigen Vorschriften. Doch was für den einen bloßes Feiern ist, ist für einen anderen die Ablenkung von eigenen Problemen, mit denen er sich jetzt unfreiwillig auseinandersetzen muss. Viele psychische Krankheiten waren bereits vorhanden und haben sich nun verstärkt durch die Einsamkeit. 

Aktuell ist es wichtig in Kontakt mit Bezugspersonen zu sein. Auch wenn es nur über Videoanrufe passiert, kann man sich gegenseitig unterstützen und über Probleme reden. Experten raten, sich selbst nicht zu Ernst zu nehmen. In der Lage, in der wir sind, hat jeder Verständnis, wenn man 20 Prozent weniger Leistung bringt als sonst. Man kann nur hoffen, dass das „Nach Corona“ schnell kommt. Und aus dem Einsam ein Gemeinsam macht.