Das Gute im Bösen

von Julia Bulenda

Quarantänen, Ausgangssperren, geschlossene Grenzen. Die Welt ist im Ausnahmezustand. Das Coronavirus legt das öffentliche Leben lahm. Doch gerade in dieser schweren Zeit bietet uns die Pandemie eine Chance zur Selbstreflexion. 

Aufstehen um kurz nach sechs oder um kurz vor acht? Den ganzen Tag im Anzug oder lieber im Pyjama? Lästiges Hin- und Herpendeln ins Büro, oder der Weg vom Schlaf- ins Arbeitszimmer?“, antwortet Vanessa Sell auf die Frage, wie es Ihr im Home-Office ergeht. „Meinetwegen kann das so bleiben“, sagt sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Die im März von der Bundesregierung verhängten Kontaktbeschränkungen haben zu einer massiven Verlagerung vom Büro ins Homeoffice geführt.  

Die beweglichen Arbeitszeiten sind ideal dafür, sich besser um Eltern, Kinder oder Tiere zu kümmern oder um sich anderweitig gemeinschaftlich zu engagieren. Der erzwungene soziale Rückzug, wenn man plötzlich aus dem Alltag und allen „Automatismen” rausgezogen werde, kann auch positive Effekte für den Einzelnen haben. Stichwort: Entschleunigung. Wer plötzlich aus seinen permanenten „To-Do’s” rauskommt und nicht mehr im Berufsverkehr steht, fühlt sich entlastet. Werden Ruhe und Konzentration verlangt, bevorzugt Sell klar das Home-Office. Ungestört von ihren Kollegen im Büro fallen vor allem kreative Aufgaben in den eigenen vier Wänden leichter als in der Firma. „Ich bin im Home-Office viel entspannter und produktiver. Ich kann mir meine Zeit selbst einteilen“, sagt sie. „Zwischendurch kann ich den Haushalt erledigen, der abends normalerweise liegen bleibt.“ 

Vanessa Sell beschreibt sich selbst als Workaholic. Seit vielen Jahren leitet Sie die Buchhaltung einer großen Handelsfirma für Parfum. Viel Freizeit bleibt ihr nicht bei einer Arbeitswoche, die weit mehr als 40 Stunden zählt. Doch das hat sich geändert.
Viele Menschen versuchen so, wie Sell, die gewonnene Zeit zu Hause positiv zu nutzen. Sie räumen den Kleiderschrank auf, kochen viel mehr als zuvor, probieren neue Rezepte aus.

Wenn vieles zum Stillstand kommt, ist Zeit, um einmal darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. Im Selbstverständnis des Alltags geht zu schnell vergessen, sich und andere wertzuschätzen. Krisenzeiten wie diese zeigen uns, wie viele Freiheiten wir normalerweise genießen können. Die Corona Krise lehrt, auch die scheinbar einfachen und nebensächlichen Dinge zu würdigen und unsere Prioritäten neu zu setzen. Sell hat endlich genug Zeit sich

Ihrem Hobby zu widmen. Vorher konnte sie ihr Pferd lediglich einmal im Monat ausführen. Aktuell schafft sie es zweimal wöchentlich auszureiten. „Corona hat uns auch vor Augen geführt, wie kurz die Zeit mit den Menschen sein kann, die du liebst,  so die 30-Jährige. 

Von Balkonkonzerten bis hin zu unzähligen freiwilligen Helfern: In Krisenzeiten zeigt sich die Solidarität. Hilfstätigkeiten, wie zum Beispiel unter Nachbarn, sind insbesondere während Quarantäne und Ausgangssperren unverzichtbar und wichtig. Blicken wir über kuriose Hamsterkäufe einen Moment hinweg, sehen wir vor allem ein Miteinander, das von Zusammenhalt und einem Handeln im Sinne der Gemeinschaft geprägt ist. Auch Psychologe Daniel Wagner hält die Tatsache, dass „wir kollektiv alle da drin stecken” für einen Vorteil in der momentanen Situation. „Es wäre viel schwieriger, wenn man allein betroffen wäre. Das wäre wie Hausarrest. Wenn ich aber weiß, es geht allen so, macht es das leichter.” Die Krise zeigt uns, dass die Idee der Solidarität eben nicht nur eine schöne Vorstellung ist, sondern wirklich zur Realität werden kann. 

Eine positive Erkenntnis des Psychologen Wagner ist die konkrete Solidarität, die man aktuell etwa in sozialen Netzwerken beobachten kann. Menschen bieten anderen aus Risikogruppen ihre Hilfe an. „Das ist etwas, wovon wir gesellschaftlich profitieren können”, sagt er. Mit der Krise zeigt sich zum Glück auch die Menschlichkeit. Viele begeben sich in freiwillige Quarantäne, die zunehmenden Einschränkungen werden aktiv umgesetzt, Hamsterkäufe kritisiert, Corona-Partys verurteilt. Unter Hashtags wie #SocialDistancing #StayHomeChallenge #ShutDownGermany #FlattenTheCurve und #WirBleibenZuhause versuchen Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien noch mehr Menschen dazu zu animieren, dem Virus weniger Gelegenheit zur Ausbreitung zu geben. Die Gefahr kann nicht heruntergespielt werden. Dennoch gibt es der Verunsicherung und den negativen Nachrichten etwas Positives entgegensetzen. Wegen der Einschränkungen, die mit dem Virus einhergehen, kommen wir wieder in Kontakt mit unseren Werten – als Einzelne und als Kollektiv können wir aus dem Geschehen lernen und aus der Pandemie gestärkt und weiser hervorgehen.