Vorsicht Suchtgefahr

„Netflix and chill“ gilt mittlerweile als Hobby für viele junge Menschen und ersetzt sogar den klassischen Freitagabend in den Bars und Clubs der Stadt. Doch was, wenn der Serien-Konsum das gesunde Maß übersteigt? 

Strahlend blauer Himmel, die Sonne zeigt sich von ihrer besten Seite und das Thermometer knackt die 25 Grad-Marke. Bei so perfektem Wetter treffen sich seine Freunde zum Fußballspielen im Park oder gehen gemeinsam ins Schwimmbad – doch Max Eberle ist mal wieder nicht dabei. Er sitzt lieber daheim, zieht die Decke bis unters Kinn und hat eine Verabredung mit einer Serie, die er gerade neu auf Netflix entdeckt hat. Das schlechte Gewissen nagt an ihm, wenn er durch die Schlitze der Jalousie die Sonnenstrahlen blitzen sieht. Er weiß, dass seine Freund:innen gerade ohne ihn Spaß haben und etwas erleben.

Doch nicht immer fühlt sich der 27-jährige bei seinen Exzessen schlecht: „Es kann etwas Beruhigendes sein, sich einen Tag extra rauszunehmen und nichts zu tun. Es macht mir Spaß, ein Couchpotato zu sein und von früh bis spät Serien zu schauen.“ An solchen Tagen schaltet er gerne schon um neun Uhr am Morgen den Fernseher ein, um bis tief in die Nacht Serien des beliebten Streamingdienstes zu schauen. „16 oder 17 Stunden am Stück habe ich sicherlich schonmal auf Netflix verbracht“, schätzt der Netflixliebhaber.  

Max ist nicht der Einzige, der sich hin und wieder einem Marathon an Serien hingibt. Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 von VuMa Touchpoints, einer Markt-Media-Studie für elektronische Medien, gaben 24,6 Prozent der über 14-jährigen Netflixnutzer:innen in Deutschland an, täglich Filme, Serien oder kurze Clips auf  Streamingportalen zu konsumieren. Beim Einschalten einer Serie bleibt es oftmals allerdings nicht bei nur einer Folge. Das Phänomen, drei, vier oder mehr Episoden ohne Unterbrechung zu schauen, wird in der Wissenschaft als Bingewatching bezeichnet.

Streamingdienste wie Netflix wissen genau, was zu tun ist, um ihre Nutzer:innen zu einem Binge zu verlocken. Zwar nimmt man sich vor, heute nur eine Folge zu schauen, doch wenn die eine fertig ist, startet in fünf, vier, drei, zwei, eins Sekunden schon die nächste. Zeit zur Fernbedienung zu greifen und den roten Knopf zu drücken bleibt da kaum. Wenn Folge zwei schon angefangen hat, schalten die meisten nicht ab. Die dreiviertel Stunde mehr oder weniger macht für sie keinen Unterschied. Dass Netflix Staffeln meistens komplett veröffentlicht, ist ein weiterer Faktor warum es so schwer ist, den eigenen Konsum zu rationieren. Einmal mit der Staffel angefangen, will man sie so schnell wie möglich beenden. Der Serienmarathon wird auch durch Cliffhanger unterstützt. Die Spannung am Ende der Folge nimmt zu, bricht aber abrupt ab und lässt den Zuschauer mit Fragen zurück. Das Verlangen zu erfahren, was in der weiteren Episode geschieht, macht ein Abschalten nahezu unmöglich. 

Für Kevin Niang, Sozialpädagoge des MEDIAN Gesundheitszentrums in der Sucht- und Psychosomatik-Beratung, ist der Drang, eine Folge nach der nächsten streamen zu müssen, klares Anzeichen einer Suchttendenz. Als Suchterkrankung wird ein exzessiver Serienkonsum bislang noch nicht gewertet, doch laut Niang könnte sich das in Zukunft ändern: „Ich bin davon überzeugt, dass es Seriensucht gibt, auch wenn sie als solches noch nicht klassifiziert wurde.“

Bisher zählt jegliche Art von übermäßigem Medienkonsum zu Computerspielsucht. Dabei ist es egal, ob der Konsum auf soziale Medien, die Smartphonenutzung generell oder eben auf Serienkonsum bezogen ist. Das liegt daran, dass der Effekt immer derselbe ist. Ob beim Abtauchen in die Serienwelt oder in das Computerspieluniversum, Betroffene isolieren sich, schotten sich von ihrem sozialen Umfeld ab und können sogar eine Sozialphobie entwickeln. Im schlimmsten Fall kann der Verlust der sozialen Kontakte zu Depressionen führen. Wenn schon die Freund:innen fehlen, die sich melden, tut es aber immerhin noch einer: der Hunger. Früher oder später überfällt er jeden, auch beim Nichtstun. Doch der Gang aus dem Bett zum Kühlschrank ist lang und mühsam. Die Serie zu unterbrechen, um sich etwas zu kochen? Bequem im Bett liegen zu bleiben und den nächsten Lieferservice zum fünften Mal die Woche anrufen scheint die bessere Option zu sein.

Gesund und gut für den Geldbeutel ist dieses Verhalten sicherlich nicht. Vor allem jemand, der psychisch erkrankt ist und dadurch den Bezug zu sozialen Kontakten verliert, hat es schwer, sich von einem Serienmarathon loszureißen. Niang erklärt, warum sie besonders anfällig für suchtartigen Serienkonsum sind: „Den sozialen Rückzug müssen depressive Menschen irgendwie kompensieren. Sie suchen Ablenkung und das passiert beispielsweise dadurch, wenn sie sich von Serien berieseln lassen“. 

Ein Serienbinge kommt bei Max heute nur noch selten vor. Nur wenn eine neue Staffel seiner Lieblingsserie veröffentlicht wird, gibt er sich einem Serienmarathon hin. „Die Angst davor, meine Zeit mit einem schlechten Film oder einer schlechten Serie zu verschwenden, dominiert heute“, erklärt er. Deshalb fokussiert sich Max lieber auf kurze Dokus, die er auf YouTube anschauen kann. Bei diesem Format fühlt er sich nicht dazu gezwungen weiterzuschauen, wenn es ihm nicht gefällt. „Bei einer Doku kann ich auch nach 20 Minuten einfach abschalten. Auch wenn sie schlecht war, habe ich trotzdem etwas dabei gelernt, anders als wenn ich mich bei Netflix berieseln lasse.“ 

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